Neuerscheinung
Das Buch "Aufdeckungsprozesse männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt in Kindheit…
[ 20.12.2017 ]Im Rahmen des Forschungs- und Praxisprojekts Aufdeckung und Prävention von sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche formulierten Betroffene wie auch Personen, die professionell an Aufdeckungsprozessen beteiligt sind, Bedarfe und Forderungen zur Verbesserung der Situation männlicher Betroffener. Auf Grundlage der Ergebnisse der wissenschaftlichen Analyse wurden diese Forderungen ergänzt und überarbeitet, um dann auf der Abschlusstagung des Projekts erneut diskutiert und schließlich zu den folgenden Empfehlungen weiterentwickelt zu werden. Unsere Empfehlungen sind auch in dem Buch enthalten, welches wir nach Abschluss des Projekts veröffentlicht haben.
Diese Empfehlungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit – in dem Maß, in dem insbesondere Betroffene selbst, aber auch ihre Unterstützer_innen an politischen Prozessen zur Verbesserung der Situation von Betroffenen sexualisierter Gewalt sowie zur Stärkung der Prävention von sexualisierter Gewalt teilhaben, werden sich weitere Perspektiven eröffnen, werden weitere Forderungen formuliert und die bestehenden Forderungen differenziert werden. Dies ist daher die wichtigste Schlussfolgerung und Forderung, die aus dem Projekt Aufdeckung und Prävention von sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche folgt: Betroffenen muss zugehört, ihre Widerfahrnisse ebenso wie ihre Analysen und Einschätzungen müssen anerkannt und die sich daraus ergebenden Veränderungsbedarfe müssen ernst genommen werden. Sexualisierte Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche ist ein tiefgreifendes Problem dieser Gesellschaft. Sie zu verhindern und ihre Folgen abzumindern, bedarf enormer Anstrengungen auf persönlicher, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene.
Ein Ergebnis der Studie ist, dass Grundlagenwissen über den eigenen Körper und die eigene Sexualität hilfreich für männliche Kinder und Jugendliche bei der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt ist. Wenn männliche Kinder und Jugendliche ihren eigenen Körper kennenlernen und dazu befähigt werden, Körperteile und sexuelle Handlungen zu benennen, sind sie eher dazu imstande, über potentiell grenzverletzende Situationen zu sprechen und Hilfe zu suchen. Darüber hinaus brauchen Jungen ein Wissen über sexualisierte Gewalt und deren vielfältige Formen sowie über ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.
Daher sollten die Vermittlung von Wissen über Körper, Sexualität und sexualisierte Gewalt flächendeckend und kontinuierlich Teil pädagogischer Praxis in Kindergärten und Schulen sowie in der Jugendhilfe sein. Dafür müssen weiterhin altersgerechte Materialien erarbeitet und an pädagogische Einrichtungen, pädagogische Fachkräfte und Erziehungsberechtigte vermittelt werden. Pädagog_innen müssen darüber hinaus die zeitlichen und materiellen Ressourcen haben, um sich mit aktuellen Entwicklungen (z.B. Sexting, Grooming in neuen Medien) auseinandersetzen und diese gegenüber Kindern und Jugendlichen thematisieren zu können. Es sind ausreichend Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die die Entwicklung und Verbreitung von Materialien, die Qualifizierung von Pädagog_innen sowie die flächendeckende Versorgung von Aus- und Fortbildungseinrichtungen sowie pädagogischen Einrichtungen mit Materialien zu gewährleisten. Die Umsetzung der hier geforderten Vermittlung und Versorgung muss regelmäßig geprüft werden, Verbesserungsbedarfe sind unter Beteiligung von Pädagog_innen, Kindern und Jugendlichen wie auch Betroffenen zu erheben.
Darüber hinaus muss in pädagogischen Einrichtungen der Standard bezüglich der Kenntnisse über Sexualität und sexualisierte Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche sowie Möglichkeiten der Prävention deutlich verbessert werden. Für die Erarbeitung und Implementierung von Schutzkonzepten sollten finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Dabei sollten die pädagogischen Angebote der Felder Prävention und Sexualpädagogik als einander ergänzend betrachtet werden und für beide ausreichende Ressourcen bereitgestellt werden. Um eine Kultur der Grenzachtung in der Schule zu ermöglichen, sollten sowohl sexualpädagogische als auch Präventionsangebote in Schullehrplänen verankert werden und eine Sensibilisierung und Fortbildung von allen Schulangehörigen über die Lehrkräfte hinaus stattfinden.
Materialien und Methoden von Präventions- und sexualpädagogischen Angeboten müssen von der Anerkennung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gekennzeichnet sein, ebenso das Handeln von Pädagog_innen. Kinder und Jugendliche sollen ein Wissen erlangen, welches nicht bestimmte sexuelle Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten diskriminiert oder marginalisiert und auch die vielfältigen Perspektiven und Interessen von Jungen anerkennt, anstatt sie als homogene und an Männlichkeitsstereotypen ausgerichtete Gruppe zu behandeln (siehe dazu auch Debus 2016; Könnecke und Rieske 2017). Ebenso sollen Materialien und Methoden der Vielfalt von Kindern und Jugendlichen etwa hinsichtlich ihrer Sprachkompetenzen, Migrationsbiographien, (sub-)kulturellen Bezüge und Behinderungserfahrungen gerecht werden. Das heißt zum Beispiel, dass Materialien in mehreren Sprachen – inklusive Leichter Sprache und Gebärdensprache – zur Verfügung gestellt werden sollten, um auch diejenigen zu unterstützen, denen das Erlernen der deutschen (Laut-)Sprache erschwert ist. Die gesellschaftliche Vielfalt sollte in Materialien ebenso wie in pädagogischen Teams widergespiegelt sein, so dass männlichen Kindern und Jugendlichen vielfache Identifikationsmöglichkeiten geboten werden. Materialien und Methoden müssen darüber hinaus berücksichtigen, dass sich unter den Adressat_innen Personen befinden können, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist und für die eine Thematisierung von Körper, Sexualität und sexualisierte Gewalt besonderen Stress bedeuten kann. Das Recht auf eine vielfaltsorientierte und betroffenensensible Sexualpädagogik und Prävention sexualisierter Gewalt sollte in allen deutschen Bundesländern gesetzlich verankert werden.
Es gibt weiterhin Gebiete in Deutschland, in denen keine für die Bedarfe von männlichen Kindern und Jugendlichen kompetenten Beratungsstellen erreichbar sind. Dieser Missstand muss unbedingt behoben werden – jeder Junge sollte in einer Stunde Fahrzeit mit dem ÖPNV eine kompetente Beratungsstelle erreichen können und über deren Existenz informiert sein. Angesichts der Verhältnisse in den Flächenländern sollten Konzepte zur mobilen Beratung sowie die Einbindung von Schulen, Verbänden oder freien Trägern in den Regionen erprobt werden. Die Erarbeitung von Konzepten für den ländlichen Raum sollte hier einen besonderen Stellenwert erhalten.
Flankierend sollten telefonische und Online-Beratungsangebote ausgebaut werden, um erste Ansprechmöglichkeiten zu bieten. Dabei können Online- und Telefonberatung jedoch kein Ersatz für eine qualifizierte persönliche Beratung sein. Im Sinne einer betroffenensensiblen Hilfelandschaft sind im Besonderen Strukturen der Selbsthilfe von männlichen Kindern und Jugendlichen sowie Männern zu fördern. Im Rahmen partizipativer Forschung sollte mit Kindern und Jugendlichen, Pädagog_innen und Eltern sowie mit erwachsenen Betroffenen kontinuierlich geforscht werden, welche Lücken für (welche) männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend im Hilfenetz bestehen. Darauf basierend sollten – ebenso partizipativ – Konzepte zur Behebung dieser Lücken erarbeitet werden.
Beratungsstellen benötigen genügend Ressourcen für eine effiziente und wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, so dass bestehende Angebote sichtbar sind und wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist eine langfristige finanzielle Absicherung dieser Beratungsstellen notwendig, damit ihre Mitarbeiter_innen und Klient_innen eine sichere Perspektive haben.
Vernetzung und Austausch untereinander tragen zur Verbesserung der Arbeit von Hilfeträgern bei. Die bereits bestehenden Vernetzungsmechanismen sollten ausgebaut werden, um Synergieeffekte zu stärken. Über die Vernetzung untereinander hinaus kann eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Hilfeträgern, Netzwerken für Frühe Hilfen und Kinderschutzbeauftragten dazu beitragen, Betroffenen adäquate Hilfe zukommen zu lassen. Ziel dieser Zusammenarbeit sollte sein, betroffenensensiblere Arbeitsabläufe zu etablieren.
Frühkindliche Bildung, Schule und Jugendhilfe sollten die kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen und die Vermittlung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt als Querschnittsaufgaben begreifen und als geschlechterreflektierte Pädagogik in der eigenen Praxis nachhaltig verankern. Die kritische Reflexion von Geschlechterordnung und Heteronormativität kommt allen Kindern und Jugendlichen zugute, unabhängig von ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Identität. Traditionelle Männlichkeitsbezüge sind zumeist mit Konzepten wie Stärke, Souveränität, Wehrhaftigkeit und Autorität verknüpft. Wenn Jungen diese Männlichkeitsnormen übernehmen, hat dies Konsequenzen: Einerseits bieten sie Orientierung und einen (vermeintlich) klaren Handlungsrahmen, andererseits verstellen sie den Blick auf Belastungen und Hilfsbedürftigkeit sowie auf die Betroffenheit von sexualisierter Gewalt. Die kritische Reflexion von Geschlechternormen geht mit einer Entlastung von Männlichkeitsanforderungen einher und kann für männliche Kinder und Jugendliche als auch für Multiplikator_innen dazu beitragen, dass Gewalterfahrungen erkannt und bewältigt werden können. Teil einer geschlechterreflektierten Pädagogik ist dabei immer, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass männliche Kinder und Jugendliche ein Recht auf Gewaltfreiheit, Fürsorglichkeit und Räume zum Reden haben.Dies muss in Bildung und Jugendhilfe viel deutlicher umgesetzt werden und erfordert eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Männlichkeitsanforderungen und Gewaltstrukturen sowie strukturelle Veränderungen, um Letzteren entgegenzutreten. Die Erarbeitung und konsequente Umsetzung von Schutzkonzepten in pädagogischen Einrichtungen kann hierzu einen Beitrag leisten.
Die Verankerung von geschlechterreflektierter Pädagogik in der pädagogischen Landschaft muss vorangetrieben werden und steht vor allem im schulischen Bereich noch am Anfang. Hier ist für die Qualifizierung des Personals zu sorgen. Benötigt wird darüber hinaus die Entwicklung geschlechtergerecht ausgerichteter Lehr- und Lernmaterialien. Kitas, Schulen und Jugendeinrichtungen sollten außerdem über genügend Ressourcen verfügen, um spezialisierte Fachträger für die Durchführung von geschlechterreflektierter Kinder- und Jugendarbeit sowie für Fortbildungs- und Beratungsprozesse nutzen zu können.
Im Sinne partizipativer Forschung sollten Betroffene nach Möglichkeit Einfluss auf die Ausgestaltung von Forschungsvorhaben haben und ihre Mitwirkung bei Forschungsvorhaben sollte angemessen gewürdigt und entlohnt werden. Dafür können eine Reihe von Maßnahmen getroffen werden: So können Betroffene bei der Ausarbeitung von Forschungsfragen und -designs zu Rate gezogen werden und dann kontinuierlich in den Forschungsprozess einbezogen werden, um sicherzustellen, dass während des gesamten Forschungsprozesses die Orientierung an Bedarfen von Betroffenen gewährleistet bleibt. Ebenso könnten Betroffene bei der Supervision von Forschungsprozessen als Expert_innen einbezogen werden oder ihre Expertise in Beiräten zur Verfügung stellen. Als Interviewpartner_innen in Forschungsprojekten sollte Betroffenen eine Aufwandsentschädigung als Würdigung ihrer Beteiligung zukommen.
Darüber hinaus sollten Betroffenen, die als Interviewpartner_innen an der Forschung beteiligt waren, vorläufige Forschungsergebnisse zur Verfügung gestellt werden und ihr Feedback Einfluss auf finale Forschungsergebnisse haben. Die Erfahrungen in der AuP-Studie haben gezeigt, dass eine derartige Beteiligung von Personen auch längere Zeit nach einem Interview nur schwer zu bewerkstelligen ist, wenn sie nicht von Beginn an Teil des Forschungsprozesses sind. Dementsprechend sollten Forschungsprojekte gefördert werden, die solche Beteiligungsformen anstreben und dabei neue forschungsmethodische Konzepte erproben und generieren. Zusätzlich sollten Forschungen, die von Betroffenen selbst durchgeführt werden, gefördert werden. Dabei sollte ihre Betroffenheit nicht als möglicher Bias oder Hindernis für Objektivität verstanden werden, sondern als besondere Expertise, die sie – neben der weiterhin nötigen Ausbildung in wissenschaftlichem Arbeiten – zur Forschung im Themenfeld qualifiziert.
In der Beteiligung von Betroffenen von sexualisierter Gewalt an der Forschung über diese sollte auch die Kategorie Geschlecht reflektiert werden. Menschen verschiedenster Geschlechtszugehörigkeiten sollten an Forschung partizipieren können, und dabei sollten auch weitere Zugehörigkeiten berücksichtigt werden, damit nicht eine bestimmte Gruppe von Personen in der Partizipation dominiert. Auch Altersdifferenzen sollten im Blick sein, so dass etwa auch die Fragen von (betroffenen) Jungen einbezogen werden.
Zur Sicherung des bisher erarbeiteten Wissens zu sexualisierter Gewalt sollte ein darauf spezialisiertes Archivs bzw. Dokumentationszentrums eingerichtet werden, durch das Möglichkeiten zu Recherchen und Forschungen allen interessierten Institutionen, Gruppen oder Einzelpersonen zur Verfügung gestellt werden.
Durch ein solches Archiv könnten Wissen und neue Erkenntnisse zum Thema gebündelt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dabei wäre auch eine übersichtliche virtuelle Plattform erstrebenswert, denn archivierte Materialien sollten auch international zugänglich sein.
Dabei sollte das Archiv mehrere Funktionen erfüllen:
In die Konzeptualisierung eines solchen Archivs müssen Betroffene eingebunden werden, da dessen Einrichtung auch Risiken birgt. Es ist zu überlegen, welches Wissen in welcher Form wem zugänglich gemacht werden soll und wie dadurch ein Beitrag zur Verhinderung von sexualisierter Gewalt sowie zur Bearbeitung ihrer negativen Folgen geleistet werden kann. Das Zentrum könnte auch die Aufgabe erhalten, Gerichtsverfahren in Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu beobachten und das entstandene Datenmaterial zu analysieren.
Gesamtgesellschaftlich ist eine grundlegende Entstigmatisierung männlicher Betroffenheit von sexualisierter Gewalt notwendig. Dafür müssen männlichkeitsspezifische Zuschreibungen im Zusammenhang mit Betroffenheit von sexualisierter Gewalt (etwa eine vermeintlich aus der Betroffenheit folgende zukünftige Täterschaft oder die Assoziation von Gewaltbetroffenheit mit Unmännlichkeit) hinterfragt werden. Ebenfalls helfen kann die Anerkennung, dass auch männlichen Kindern und Jugendlichen (sexualisierte) Gewalt widerfährt und dass auch männliche Kinder und Jugendliche verletzlich sind. Es sollten weitere Aufklärungskampagnen initiiert und diesbezügliche kulturelle Produktionen verschiedenster Art (etwa Theater, Video, Bücher) gefördert werden.
Anerkennung bedeutet auch die Anerkennung der jeweiligen Bewältigungsstrategien der Betroffenen und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung für die Unterstützung der Aufarbeitungs- und Bewältigungsprozesse von Betroffenen.Viele Betroffene kämpfen mit sozialen und wirtschaftlichen Folgen der sexualisierten Gewalt und brauchen konkrete, häufig auch finanzielle Unterstützung, um diese Folgen bewältigen zu können. Bisherige Ansätze zur finanziellen Unterstützung müssen daher verstetigt bzw. ausgebaut werden, die mit Anträgen auf Hilfen häufig verbundenen Belastungen für Betroffene müssen abgebaut werden.
Zur Bewältigung der sexualisierten Gewalt ist für viele Betroffene die juristische Aufarbeitung und Anerkennung des Unrechts durch eine Autorität (Staat, Institution Kirche etc.) von großer Bedeutung. Auch das Schuldeingeständnis des Täters/der Täterin, verbunden mit Freiheitsstrafen oder finanzieller Entschädigung, kann wichtig sein. Daher sollten die Bedingungen für Betroffene hinsichtlich der Strafverfolgung verbessert werden (etwa durch angemessene Verfahren der Einholung von Aussagen durch minderjährige Betroffene) und der finanziellen Entschädigung der Betroffenen ein größerer Stellenwert eingeräumt werden.
Diese Website setzt ausschließlich technisch notwendige Cookies ein.
Weitere Informationen zu Cookies finden sich in unserer Datenschutzerklärung.