Konzept

Ausgangslage

Jungen sind von sexualisierter Gewalt betroffen: Im internationalen Vergleich weisen Metaanalysen auf einen Anteil von 4 bis 8% aller Jungen, die in Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben. Etwa die Hälfte bis zwei Drittel aller Fälle von sexualisierter Gewalt werden laut bestehender Forschung entweder gar nicht oder erst im Erwachsenenalter aufgedeckt. Da die meisten Aufdeckungen innerhalb des privaten Bereichs geschehen, bleiben die Informationen über die sexualisierte Gewalt oft im Dunkeln. Nur wenige Fälle von sexualisierter Gewalt werden institutionell behandelt, etwa durch Strafverfolgung, Jugendämter oder medizinisch-psychologische Dienste. Auch pädagogische Institutionen reagieren in der Regel sehr zögerlich auf die Fälle, die ihnen bekannt werden. Die sichtbaren Fälle bilden nur die Spitze des Eisbergs.

Die Betroffenheit von Jungen wird in Diskussionen rund um sexualisierte Gewalt kaum oder nur nebenbei vermerkt. Häufig wird ein Bild sexualisierter Gewalt mit männlichen Tätern und weiblichen Betroffenen vermittelt. Immer wieder erfahren Jungen und männliche Jugendliche, dass ihnen nicht zugetraut wird, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, so dass eine Aufdeckung solcher Erfahrungen mit besonderen Hürden verbunden ist. Traditionelle Männlichkeitsbezüge stehen der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt entgegen. Ohnmachtserfahrungen haben keinen Platz, dort wo Jungen mit der Anforderung konfrontiert sind, sich als stark und überlegen präsentieren zu müssen.

Forschungskonzept

Die Forschung im Rahmen des Projekts konzentrierte sich deshalb auf Aufdeckungsprozesse bei sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche mit dem Ziel, dass diese Prozesse früher, häufiger und in für die Betroffenen positiveren Weisen geschehen können als bisher. Anhand einer Rekonstruktion von Aufdeckungsprozessen aus mehreren Perspektiven wurden sowohl Aufdeckungsverläufe als auch heilsame Faktoren herausgearbeitet.

Dafür wurden Interviews mit professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligten aus den unterschiedlichen Feldern der Beratungs- und Wissenschaftspraxis durchgeführt. Ziel dieser Interviews war es, spezifisches Wissen zu Aufdeckungsprozessen bei Jungen und deren professioneller Begleitung zu sammeln und Hinweise zu offenen Fragen und Bedarfen im Themenfeld zu erhalten.

Zweitens wurden biographische Interviews mit 31 männlichen Betroffenen geführt, die den Kern des Projekts bilden. Interviewt wurden Männer, denen als Kinder oder Jugendliche sexualisierte Gewalt widerfahren ist und die ihre Erfahrungen inzwischen offengelegt hatten. Ziel war die Erforschung der Bedingungen, die es den Interviewpartnern erleichtert haben, ihre sexualisierten Gewalterfahrungen aufzudecken und die Erforschung unterschiedlichen Aufdeckungsverläufe und –dynamiken in diesen Prozessen.

Zusätzlich haben wir drittens – auf Empfehlung der von sexualisierter Gewalt betroffenen Personen – Interviews mit an Aufdeckungsprozessen beteiligten Personen durchgeführt und dabei ebenfalls jene Faktoren beleuchtet, die zu einem gelingenden Aufdeckungsprozess beitragen. Die Interviews mit betroffenen und beteiligten Personen wurden unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Perspektiven zu Fallstudien zusammengefasst. Die Anonymität aller Interviewpartner_innen wurde dabei gewahrt.

In der Studie wurden Bedingungen berücksichtigt, die der bisherigen Forschung zufolge das Risiko erhöhen, sexualisierte Gewalt zu erleben: das Vorliegen einer Beeinträchtigung oder Behinderung, das Aufwachsen in einem patriarchal-autoritären Umfeld sowie das Erleben von Partnerschaftsgewalt im familiären Kontext.

Ergebnis

Auf Grundlage dieser Rekonstruktionen wurden im Ergebnis Lücken und Wege im Hilfeangebot für männliche Betroffene aufgezeigt sowie Empfehlungen erarbeitet, wie eine angemessene Hilfe aufgebaut sein muss. Im Anschluss daran wurden Module zur Fortbildung entwickelt und durchgeführt. Die Ergebnisse wurden als Buch veröffentlicht, das Empfehlungen an die Politik gibt. Zusätzlich ist eine Broschüre erschienen, die sich an Fachkräfte wendet und das Thema kompakt zusammenfasst.